Es ist eine allgemein bekannte Tatsache, dass bei der Niederzurrmethode einige, für den Anwender nicht genau abwägbare Umstände, die Sicherungskraft beeinflussen können. Einer dieser Umstände ist die Verteilung der Vorspannkraft (STF) von der Ratschenseite auf die gegenüberliegende Seite der Ladung.
Die meisten Beteiligten wissen aus dem Bauchgefühl, dass auf der gegenüberliegenden Seite weniger ankommt als auf der Ratschenseite. Die Frage, die sich sofort stellt heißt: wieviel Kraft geht verloren und kann ich das berechnen.
Genau an der Stelle beginnt die Diskussion zwischen den Anhängern der EN-12195-1 und der VDI-2700ff. Beide Seiten sind mit Experten besetzt mit dem Unterschied, dass an der VDI-2700ff nur Deutsche beteiligt sind, aber an der EN-12195-1 die von 27 Ländern. Leider verlieren die auf beiden Seiten Beteiligten den Fahrer und den Verlader etwas aus dem Auge, welche die z.T. sehr theoretischen Überlegungen in die Praxis umsetzen sollen.
Mit dem folgenden Beitrag will ich versuchen, das Dickicht etwas zu lichten und für den Praktiker griffig darzustellen. Ich hoffe, es gelingt mir. Aber auch ich bin nicht unfehlbar.
Die Niederzurrmethode
Bei der Niederzurr-Methode wird ein Gurt über die Ladung gelegt, die Haken von Fest- und Losende eingehängt und dann mit der Ratsche die Vorspannkraft aufgebracht. Die Prozentzahlen in der Grafik sind fiktiv und sollen nur zeigen, dass die anliegende Vorspannkraft über die Ladungsecken immer weniger wird.
Unabhängig davon, wie groß die Vorspannkraft ist, teilt sie sich prinzipiell in mindestens drei Bereiche auf:
- Ratschenseite: 100% STF
- Über der Ladung weniger als 100%
- Auf der gegenüberliegenden noch weniger bis gar nichts.
Gibt es mehr als zwei Umlenkstellen, dann wird auch die Spannkraftverteilung kleinteiliger.
Die VDI-2700 Blatt 2 Ausgabe 07-2014 spricht vom Übertragungsbeiwert (k), der unter bestimmten Umständen den Wert von k=2,0 annehmen kann. Diese bestimmten Umstände wären ein Vorspannkraftanzeiger am Losende oder ein Gurt mit zwei Ratschen. Für die Praxis wird der Wert von k=1,8 empfohlen. Das ist aus meiner Sicht als Praktiker sehr sportlich gedacht. Generell sollten Kantengleiter (Kantenschutzwinkel) verwendet werden. Die Berechnung der verbleibenden Kraft erfolgt mit der Formel nach Euler: Fres = F * e -µ*α.
Wird die allgemeine Verladerschaft und das Fahrpersonal damit zurechtkommen??? Eher nein!
Die Formeln zur Berechnung
Die EN-12195-1 Ausgabe 01-2021 spricht vom Sicherheitsbeiwert (fs), weil sie annimmt, dass die Vorspannkraft auf beiden Seiten gleich groß ist. Um die Unsicherheiten beim Sichern von Ladung ausgleichen, gibt es dafür den Sicherheitsbeiwert. Zu den Seiten und nach hinten soll er mit fs=1,1 und nach vorn mit fs=1,25 angenommen werden.
Die Gleichung zur Berechnung der Vorspannkraft eines Zurrmittels lautet:
Das ist die Formel für die Berechnung der Sicherungskraft. Am Ende der üblichen Berechnung wird der Sicherheitsbeiwert (fs) hinzugefügt. Das bedeutet, die berechnete Vorspannkraft wird um 10% bzw. 25% pauschal erhöht.
Das ist die Formel für die Berechnung der Reibkraft beim Direktzurren.
Der Reibbeiwert µ wird mit dem Faktor fµ=0,75 multipliziert. Das heißt, er wird um 25% reduziert.
Beispiel:
Ladungsgewicht = 1.000kg
Reibbeiwert µ=0,3
1.000daN * 0,3 = 300daN.
1.000daN * 0,3 * 0,75 = 225daN
Durch die Reduzierung der Reibkraft ergibt sich automatisch eine Erhöhung der Sicherungskraft, womit Unsicherheiten ausgeglichen werden sollen.
Auch die EN-12195-1 versucht also mit mathematischen Überlegungen die Unsicherheiten auszugleichen, wobei die Faktoren in sich, auch eine Unsicherheit enthalten. Niemand weiß genau, ob die Faktoren richtig sind. Grundsätzlich ist es jedoch besser, mit Sicherheit zu arbeiten, als es zu unterlassen. In der Seefahrt wird schon immer mit solchen Sicherheitsfaktoren gearbeitet, um Unwägbarkeiten abzusichern. Das ist also nichts neues.
Umsetzung in der Praxis
Wie lässt sich diese Problematik in die Praxis umsetzen?
Variante 1: die verantwortliche Person gemäß §9(2) OWiG, sie ist entsprechend ausgebildet und sachkundig, nimmt einen Taschenrechner und berechnet jede einzelne Ladung. Das ist, unter rechtlich-/physikalischen Gesichtspunkten, die sicherste Methode. Die Maßnahmen sollten dokumentiert werden.
Variante 2: die verantwortliche Person gemäß §9(2) OWiG sorgt dafür, dass bestimmte Randbedingungen eingehalten werden. Diese Überlegungen ergeben sich aus den Berechnungen der Variante 1. Diese könnten sein:
- Gestellung eines geeigneten Fahrzeugs
- Verwendung von geeigneten und ausreichenden Sicherungsmitteln. Vorzugsweise sind immer Langhebel-Zugratschen, Kantenschutzwinkel (Kantengleiter) und Antirutschmatten zu verwenden. Langhebel-Zugratschen deshalb, weil ziemlich zuverlässig eine Vorspannkraft von mehr als 400 daN anliegt.
- Falls keine Kantenschutzwinkel zur Anwendung kommen, nur mit der Vorspannkraft auf der Ratschenseite (k-Faktor = 1,0) rechnen. Werden welche verwendet, dann den k-Faktor mit 1,5 ansetzen.
- Erstellen einer Verladeanweisung, welche die Berechnungen in die Praxis umsetzt. Enthalten muss diese eindeutige Anweisungen wie:
- Besenreine Ladefläche
- Formschlüssiges Stauen
- Einsatz von Antirutschmatten
- Einsatz von Kantenschutzwinkeln
- Richtige Position der Spanngurte
- Stichprobenkontrolle der Vorspannkraft
- Die Kontrolle aller Maßnahmen
Die Erfahrung zeigt, dass beim Anwenden der Variante 2 die meisten Ladungen sicher transportiert werden können und das Risiko auf ein Minimum reduzierte wird.
Fazit
Die vorstehend beschriebenen Überlegungen entbinden die verantwortliche Person, das ist auf alle Fälle die Geschäftsführung, nicht davon, im eigenen Bereich den ganzen Verladeablauf nachvollziehbar zu organisieren. Damit kann dem Vorwurf „grobes Organisationsverschulden gem. §130OWiG“ entgegengetreten werden. Sollte durch mangelhaft Ladungssicherung eine Situation eintreten, die über eine Ordnungswidrigkeit hinaus in den Straftatbereich übergeht, dann muss nachgewiesen werden, welche Überlegungen und Maßnahmen angestellt wurden, um die Situation vermeiden, bzw. zu verhindern. Eine gute Grundlage ist das Studium der VDI-2700 Blatt 5 „Qualitätsmanagement-Systeme“. Hier wird der ganze Ablauf in dünne, nachvollziehbare Scheiben zerlegt, die es dann zu organisieren gilt.
Am besten gleich mit den beschriebenen Maßnahmen anfangen, falls sie noch nicht vorgenommen wurden.
Ich wünsche allen ein frohes Schaffen und eine glückliche Hand.
Ihr Sigurd Ehringer
<< Zum vorherigen Beitrag
Folge 40: Wie vermeidet man den Dominoeffekt bei der LKW Beladung?
Zum nächsten Beitrag >>
Folge 42: Keile zur Ladungssicherung
Sigurd Ehringer
✔ VDI-zertifizierter Ausbilder für Ladungssicherung ✔ Fachbuch-Autor ✔ 8 Jahre Projektmanager ✔ 12 Jahre bei der Bundeswehr (Kompaniechef) ✔ 20 Jahre Vertriebserfahrung ✔ seit 1996 Berater/Ausbilder in der Logistik ✔ 44 Jahre Ausbilder/Trainer in verschiedenen Bereichen —> In einer Reihe von Fachbeiträgen aus der Praxis, zu Themen rund um den Container und LKW, erhalten Sie Profiwissen aus erster Hand. Wie sichert man Ladung korrekt und was sind die Grundlagen der Ladungssicherung? Erarbeitet und vorgestellt werden sie von Sigurd Ehringer, Inhaber von SE-LogCon.